Die Lust an der Armut:
von Robert Ruoff
»Why Poverty?» auf ARTE. Der Kampf gegen Armut sucht sich immer neue Wege. Offen bleibt, ob es gelingt, die Armut zu beseitigen.
Der Kampf gegen die Armut hat richtig Spass gemacht, damals, am Ende des 20. Jahrhunderts, als Bono und Bob Geldof und die versammelten Rock- und Popstars der Welt mit Konzerten zu Spenden aufgerufen haben. Es waren globale Events, Feste der Wohltätigkeit, man gehörte dazu und hatte ein gutes Gefühl. Warum auch nicht.
Es macht auch heute wieder Spass, zurückzublicken auf die Geschichte dieser Mobilisierung. Wenn im Film «Geld für die Welt» gezeigt wird, wie Bono Bill Clinton überzeugt, zum Jahrtausendwechsel einen totalen Schuldenerlass für die Entwicklungsländer zu verkünden – auch wenn er das gar nicht allein entscheiden konnte. Oder wie der gleiche Bono Präsident George W. Bush mit einer irischen Bibel in Stimmung bringt, 15 Millionen für den Kampf gegen AIDS in Afrika locker zu machen.
Das und mehr ist heute Abend zu sehen auf ARTE (20.15 Uhr), wo die weltweite Reihe «Why Poverty?» mit einem grossen Themenabend lanciert wird.
Übrigens: Die Kampagnen von Bono und Geldof haben selbstverständlich vielen Menschen in Not und Armut etwas gebracht. Und sie sind immer noch dran. Bono ist zum Beispiel zurzeit zu finden auf der Website der Weltbank, wo er sich über den Mangel an präzisen Informationen beklagt.
«Why Poverty?» – Lust am Qualitätsfernsehen
Informationen zum Nachdenken liefert «WhyPoverty?», die grosse Serie zum Thema. 70 Fernsehsender weltweit beteiligen sich an der Ausstrahlung. Mithilfe von BBC World und Internet können auch die Menschen in China und Russland die acht Dokumentarfilme sehen und die dreissig Kurzfilme (und mit Hilfe von ARTE die Menschen in der Schweiz, weil sich kein SRG-Sender an der Kampagne beteiligt).
«Wir sind keine Kampagne. Wir wollen kein Geld. Wir propagieren nicht eine bestimmte, einzelne Lösung für das Problem der Armut. Wir wollen, dass die Menschen über das Thema nachdenken und Fragen stellen.» Das sagen die Macher von «Why Poverty?». Sie nutzen Fernsehen, Internet und Social Media (facebook, twitter, google+), um Diskussionen auszulösen über die Jahrtausendfrage: Wie beseitigen wir die Armut? – Und das Material steht nach der Ausstrahlung für die nicht-kommerzielle Nutzung frei zur Verfügung (whypoverty.net).
Lust an der Armut
Es ist wohl wahr: Es macht begrenzt Spass, sich am Abend nach getaner Arbeit noch mit den unangenehmen Tatsachen auf dieser Erde herumzuschlagen. Aber «Why Poverty?» macht auch Vergnügen. Nicht nur mit der Geschichte von zwei Rockstars, die auszogen, die Welt ein bisschen zu verbessern.
Auch das «Armutszeugnis» hat seinen Reiz. «Wer will, dass Armut Geschichte wird, muss zuerst die Geschichte der Armut verstehen», heisst es im Film über die Geschichte des Elends in der Welt (ARTE, 21.05 Uhr). Es ist der Film über einen unerfüllten Traum – die Beseitigung der Armut -, mit einer ganzen Anzahl von hochrangigen Experten: von Jeffrey Sachs, dem Direktor des Earth Institute über die chinesische Historikerin Lillian Li bis zum Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Und weil diese klugen Köpfe alle etwas Kluges zu sagen haben, wird die Reise durch die Geschichte mit einer traumhaften Grafik erzählt.
Und mit ein paar kernigen Sätzen, wie zum Beispiel: «Armut macht die Reichen reich», immer schon, nicht erst heute. Das ist die Lust der Reichen an der Armut. Oder: «Armut ist der Antrieb des Systems», sprich: Reichtum wird produziert, weil die Not uns antreibt. Und schliesslich: «Hinter der modernen Armut steckt immer Gewalt.»
So sehen wir das heute, aus dem europäisch-amerikanischen Blickwinkel. Wir haben vergessen, dass Europa lange Zeit klein und vergleichsweise arm war, während auf den anderen Kontinenten hochentwickelte Gesellschaften blühten. Die grossen Reiche der Suaheli in Afrika waren produktiver als Europa, deren Hochkultur erst mit der europäischen Eroberung zerstört wurde. China genoss vom 13. Jahrhundert an die Bewunderung der europäischen Welteroberer wie Marco Polo, bis es vom 19. Jahrhundert an zunehmend in koloniale Abhängigkeit geriet. Und China hatte ein System der sozialen Sicherheit, nachdem Wort des alten Konfuzius: «In einem gut regierten Land ist Armut etwas, über das man sich schämen muss. In einem schlecht regierten Land ist Reichtum etwas, über das man sich schämen muss.» – Ist die Schweiz gut oder schlecht regiert?
Auch die Hochkultur Lateinamerikas hat die Zerstörung durch die europäischen Eroberer erlebt, die sich den Reichtum des Kontinents mit brutaler Gewalt angeeignet haben. Das Weltreich des spanischen Habsburgers Karls V., «in dem die Sonne nie unterging», ist eine späte Errungenschaft in der Geschichte von Armut und Reichtum, und wenn die Lage nicht täuscht, so könnte der Wohlstand Europas eine kurze Phase gewesen sein.
Die klugen Köpfe in «Why Poverty?» sehen jedenfalls nicht, wohin die Reise geht. Sie sehen nur, dass die Reichen wieder reicher und die Armen wieder ärmer werden.
«Gemachte Armut» – von Spanien
Europa macht sich wieder selber arm. Der Kontinent erlebt die neue «gemachte Armut» (ARTE, 22.05 Uhr)
In Spanien hat man in der Zeit des Immobilienbooms pro Jahr mehr Häuser gebaut als in allen anderen EU-Ländern zusammen. Heute stehen 20 Prozent der Wohnungen leer, berichtet der Film. Und die Banken, die die faulen Kredite gegeben haben, erhalten jetzt bis zu 100 Milliarden Euro Finanzhilfe. Diese Kredite werden als Staatsschulden verbucht.
Der Schuldenstaat muss sparen. Noch die sozialdemokratische Regierung Zapatero hat damit begonnen. Mit Kürzungen im Sozialsystem. Mit Rentenkürzungen. Und die Wirtschaft bricht ein. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 25 Prozent, jeder zweite Jugendliche ist ohne Job, und jeder Dritte bricht die Schule ab.
…über Frankreich…
In Frankreich waren die «trentes glorieuses» das, was man in Deutschland das Wirtschaftswunder nannte. Es waren die dreissig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg, mit dem Wachstum der Wirtschaft, der Einrichtung des Sozialstaates und mit dem sozialen Wohnungsbaus: den grossen Cités für die französische Arbeiterschaft, leicht durchmischt mit Einwanderern aus den Kolonien vor allem in Nordafrika. Es waren die Jahrzehnte von Wohlstand, Bildung und Stabilität.
Heute sind die Cités in den Gürteln der Städte und Grossstädte zu sozialen Brennpunkten geworden: Sammellager von Immigranten aus (Nord-)Afrika mit einem wachsenden Anteil von Illegalen ohne soziale Absicherung. Die Cités werden zu Slums, beherrscht von kriminellen Organisationen, die materielle Entschädigung gegen absoluten Gehorsam bieten.
…nach Deutschland
Und schliesslich Deutschland: Nirgends in der EU – ausser Rumänien und Bulgarien – wächst die Armut so schnell wie in Deutschland. Die Agenda 2010, die unter Führung des sozialdemokratischen Bundeskanzlers von der rot-grünen Koalition verabschiedet wurde, erweist sich zunehmend als bürokratisch gesteuerte, politische Produktion von Armut. «Hartz IV», das ausgedünnte Modell der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, «ist der Armutsstempel in Deutschland», heisst es in «Die gemachte Armut». Parallel dazu wurden die Steuersätze zugunsten der Kapitaleigner und Wohlhabenden reduziert.
Deutschland ist nicht nur das Land mit der schnell steigenden Armut. Es ist auch das Land mit den meisten Milliardären nach den USA und Japan.
Europa stand lange weltweit für ein Modell, das wirtschaftliche Effizienz mit hoher sozialer Gerechtigkeit in Einklang brachte. Der Wandel zu einem neoliberalen Modell, der – nach Margaret Thatcher – nicht zuletzt von Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder vorangetrieben wurde, hat nicht nur den Wettbewerb im ganzen Markt verschärft, also auch im Arbeitsmarkt. Er erweist sich als System, das auf der einen Seite mehr Arbeit und auf der anderen Seite sehr viel mehr Reichtum erzeugt.
«Gemachte Armut» zieht eine bittere Bilanz. Die neue Armut in Europa ist politisch gemacht. Sie frisst sich in die Mitte der Gesellschaft hinein. Und gleichzeitig führt sie zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen.
Die Lust am Untergang
In dieser elenden Lage suchen allem die jugendlichen Betroffenen nach einer neuen Identität. Das ist zuerst vielleicht eine Gegenkultur. Das ist danach und vielleicht gleichzeitig Beschaffungskriminalität. Und es ist am Ende wahrscheinlich wachsende Gewalt. Es droht ein Kreislauf von Armut, Gewalt, Kriminalität und wirtschaftlichem Niedergang
Es ist tatsächlich keine Freude, sich nach Feierabend mit solchen unangenehmen Tatsachen zu beschäftigen. Aber wenn man sich nicht damit beschäftigt und vielleicht versucht, sie zu ändern, kommen einem diese Tatsachen irgendwann auf der Strasse entgegen. Ganz überraschend.
Quelle: infosperber
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