Dienstag, 1. Mai 2012

«Die Fokussierung auf Julija Timoschenko ist nicht richtig»

«Die Fokussierung auf Julija Timoschenko ist nicht richtig»:
Das Schicksal von Julija Timoschenko sorgt für eine Verschlechterung der Beziehungen zwischen der EU und dem EM-Gastgeberland Ukraine. Eine Einschätzung der Lage von der Ukraine-Kennerin Susan Stewart, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Russland / GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Quelle: bazonline.ch
Frau Stewart, im EM-Austragungsland Ukraine ist die Oppositionsführerin Julija Timoschenko im Hungerstreik und letzte Woche gab es eine Anschlagsserie mit fast 30 Verletzten. Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung?

Es ist eine gewisse Frustration spürbar. Auch die ehemaligen Anhänger von Präsident Wiktor Janukowitsch, die seinen Wahlsieg ermöglicht haben, sehen heute, dass seine Politik nur dazu dient, die Elite zu bereichern. Die Bevölkerung merkt zunehmend, dass die Wirtschaft, die Aussenpolitik und andere Bereiche vernachlässigt werden. Ein Rückschritt im Demokratisierungsprozess.
In etwas mehr als einem Monat, am 8. Juni, beginnt die EM. Wie werden die politischen Ereignisse in diesem Zusammenhang wahrgenommen?

Wenn man hört, wie über die EM gesprochen wird, herrscht die Meinung vor, dass es ein Erfolg ist, dass sie überhaupt in der Ukraine stattfindet. Obwohl auch dies jetzt wegen der Sicherheitslage infrage gestellt sein könnte.
Wie steht es denn um die Sicherheit der Sportler und Besucher der EM?

Dies hängt von der Grundeinstellung der Elite ab. Für sie ist die EM vor allem da, um sich zu bereichern. Für Projekte im Zusammenhang mit der EM wurde auf Ausschreibungen verzichtet. Die Leute im nahen Umfeld der Führungsspitze kriegten die Aufträge, zum Beispiel der Bau neuer Strassen, der neue Flughafen, Züge. Die Qualität stand im Hintergrund. Vieles ist noch nicht fertig, und somit können gewisse Aspekte und Abläufe im Vorfeld der EM nicht getestet werden. Daraus entstehen natürlich Sicherheitsrisiken. Es kann alles gut gehen, es bleibt aber dem Zufall überlassen.
Wissen die Verantwortlichen im Ausland, vor allem die Sportfunktionäre, davon?

Eigentlich müssten sie es wissen, aber ihre Aussagen im Hinblick auf die EM sind oft beschönigend. Sie wollen wohl optimistisch auf die Spiele schauen. Zum Teil fehlen ihnen vielleicht auch die Informationen, denn in der Ukraine ist vieles undurchsichtig.
Der internationale Druck auf die Ukraine steigt, die Oppositionsführerin Julija Timoschenko freizulassen. Wie wahrscheinlich ist eine Freilassung?

Es besteht eine gewisse Möglichkeit, ich bin aber vorsichtig. Bei ihrem Prozess hatte ich nicht mit einem so harschen Urteil gerechnet, es wurde aber gefällt. Zurzeit scheint es Überlegungen zu geben, sie nach Deutschland zur Behandlung ihrer Rückenprobleme zu lassen. Die Frage ist, ob sie das auch will. Die bevorzugte Variante des Regimes dürfte die sein, dass Timoschenko im Lande unter Kontrolle bleibt.
Angela Merkel erwägt einen Boykott der EM. Nützen Boykottdrohungen etwas?

Es ist sicher wichtig als Zeichen, dass man über die Vorgänge im Land sehr besorgt ist. Man möchte sich nicht mit Vertretern des Regimes auf der Bühne zeigen, weil dies im Land als Unterstützung der jetzigen Politik dargestellt würde. Diese Gelegenheit will man dem Regime nicht bieten. Es braucht aber auch einen Plan, wie man die Beziehungen zur Ukraine in dieser schwierigen Lage nach der EM gestalten kann.
Wie müsste dieser aussehen?

Die Fokussierung auf Julija Timoschenko ist nicht richtig. Die Probleme liegen viel tiefer. Es geht um den grundsätzlichen Umgang mit der Opposition. Es geht um die fehlende Unabhängigkeit des Justizsystems. Auch wenn die Elite im Fall Timoschenko einlenken würde, wäre dies nicht gleichzusetzen mit einem grundsätzlichen Umdenken.
Worauf hört denn die Elite überhaupt?

Schwer zu sagen. Eigentlich nur auf sich. Sie sorgt dafür, dass die Lage für das Grüppchen an der Macht günstig ist. Jetzt hat sie die Beziehung mit der EU verdorben. Auch die Beziehungen mit Russland sind schwierig. Die eigene Bevölkerung unterstützt das jetzige Regime auch nicht mehr. Bisher hat sich dennoch nichts geändert.
Wer bildet eigentlich diese Elite um Janukowitsch?

Es sind Oligarchen, Verwandte und Anhänger der Regierung. Da ist etwa Rinat Achmetow, der Besitzer der Donbass-Arena, einem Austragungsort der EM. Er hat Janukowitsch im Wahlkampf unterstützt und spielt eine grosse Rolle in der ukrainischen Politik. Oder Dmytro Firtasch, ein Milliardär im Gas und Chemiegeschäft. Die Verflechtung zwischen Wirtschaft und Politik ist allgegenwärtig. Viktor Janukowitsch versucht, seinen Einflussbereich zu erweitern, indem er Verwandte und enge Freunde miteinbezieht und so ein Gegengewicht setzen kann.
Könnte es im Vorfeld der EM nochmals zu Protesten kommen?

Es wird sicher Versuche der Opposition geben, auch wenn sie nicht über solche Pläne gesprochen hat. Die Sicherheitskräfte dürften aber Proteste im Keim ersticken.
Welche Szenarien sind nun im Hinblick auf die EM denkbar?

Es gibt offenbar Vorschläge, die Spiele um ein Jahr zu verschieben oder die ukrainischen Spiele in Polen stattfinden zu lassen. Das wahrscheinlichste Szenario ist aber, dass die EM in der Ukraine stattfindet und mit einem politischen Unterton und gewissen Schwierigkeiten über die Bühne geht.(baz.ch/Newsnet)

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