Donnerstag, 5. Januar 2012

Willkommen im Biedermeier 2.0

Willkommen im Biedermeier 2.0:
Von Ronald Gehrt

Willkommen im Biedermeier 2.0


Liebe Leserinnen und Leser,

falls Sie mich fragen sollten, wie 2012 wird … nun, ich sag mal so: 2012 wird knifflig. Hat ja

auch die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache angekündigt. Nur hört keiner hin. Ich habe

niemanden in meiner Umgebung entdeckt, der nicht beruflich eng mit dem Geschehen

verbunden wäre und sich nach außen hin ernstlich Sorgen macht. Andererseits … wozu

auch? Irgendwie scheint doch alles bestens zu sein … falls die Nachrichten die Wahrheit

sagen.

Wir haben langsam einen Mangel an Arbeitslosen, hat man den Eindruck. Während

Frankreich die höchste Arbeitslosigkeit seit über zehn Jahren beklagt und in Spanien und

Griechenland die 20%-Marke locker übersprungen wurde, sind es bei uns nur sagenhafte

6,6%. Der beste wert seit der Wiedervereinigung. Und Geld haben wir doch alle. Hört man.

Das Vermögen der deutschen steigt immer weiter. Da applaudiert man doch einem

Blödmann, wie ich ihn zu Neujahr im Radio hörte, der unterstrich, dass man das ganze

Gerede von Krise einfach nicht beachten sollte. Man sollte auf sich selbst achten. Wenn es

einem selbst gut geht, ist auch alles gut. Tja …

… bei so viel Dummheit möchte man wahrlich dreinschlagen. Willkommen im Biedermeier.


Damals, Anfang des 19. Jahrhunderts, gab es schon einmal eine Fluchtwelle ins „Idyll“ (oder

besser in die Ignoranz). Die Probleme der Welt mussten draußen bleiben, man zog sich in

das Private, die Familie, die Gemütlichkeit zurück. Was dazu führte, dass die Zahl der

teilnahms- und ahnungslosen Dumpfbacken im Land rapide zunahm. Und heute ist das alles

noch gemütlicher. Denn im Wohnzimmer steht nun der Fernseher. Und wie wir gerade

erfuhren, ist die Zeit, die JEDER Deutsche im Schnitt von der Glotze fristet, nunmehr auf den

neuen Rekord von 224 Minuten gestiegen. Am Tag, nicht in der Woche. Ohne Computeroder

PlayStation-Spiele natürlich.



Das fiese an so einer Krise ist, dass sie sich nicht von alleine erledigt, wenn keiner hinschaut.

Im Gegenteil. Denn die Zahl derer, die von ihrem gemütlichen Couch-Potato-Dasein unsanft

durch Überschuldung und/oder Arbeitslosigkeit (oder als Selbständiger durch

Umsatzschwund oder aufgefressene Gewinnmargen) in die Realität gerissen werden, steigt

schnell. Sehr schnell. Doch durch diese entsetzliche Manie, Katastrophenmeldungen

andernorts mit Jubelnachrichten hierzulande zu vermengen, werden diejenigen, die das

Schrillen der Alarmglocke nicht hören wollen oder einfach (als Erfolg obiger Medienstrategie)

nicht hören können, in einer trügerischen Sicherheit gewogen, die den Sturz ins kalte Wasser

außerhalb des heimischen Wohnzimmers gefährlich macht. Wer unvorbereitet von der Klippe

fällt, weil er sich in der Masse sicher wähnte, ist nicht nur ein Lemming. Er ist schnell ein toter

Lemming. In diesem Fall eben wirtschaftlich tot.

Pleite? Bloß nichts anmerken lassen …

Aber wie weit sind wir dahingehend schon gediehen? Deutschland geht es gut, sagte die

Kanzlerin. Ei, das ist fein. Und es stimmt, wenn man die offiziellen Zahlen einfach so

hinnimmt. Dabei ist es nicht nur die zunehmende Trägheit von Otto Normalverbraucher, die

kritisches Nachhaken immer seltener werden lässt. Es ist auch der rapide zunehmende

Egoismus, ja beinahe eine pandemische Egomanie, die die meisten das hören lässt, was sie

hören wollen, solange die Probleme nur die anderen betreffen. Und es liegt nicht zuletzt

daran, dass wir eine Schamgesellschaft geworden sind!

Wenn wir in den Medien nonstop von Luxus hören und sehen … dass es allen gut geht …

dass man jetzt auf Qualität achtet und nicht mehr auf den Preis … dass wir fast

Vollbeschäftigung haben und die Deutschen im Schnitt immer reicher werden … dann kommt

man sich wie ein Trottel vor, wenn man nicht dazu gehört. Und da es immer mehr Menschen

so geht, es aber niemand zugeben mag, weil es doch scheinbar allen anderen immer besser

geht, werden die dicken Schlitten eben geleast, noch mehr Kredite aufgenommen und dafür

dick in Urlaub gefahren … oder wenigstens so getan, als wäre man auf den Seychellen

gewesen, indem man den Malle-Aufkleber schnell vom Koffer kratzt. Ich für meinen Teil stelle

in meiner kleinen Welt, einer Welt außerhalb der Standard-Medien und der Reichen, fest:

Immer mehr Menschen geht es schlechter, viel schlechter als vor zehn oder zwanzig Jahren.

Kenne ich nur die falschen Leute? Wohl kaum, den für denjenigen, der hinsieht, ist es

offensichtlich. Nehmen wir doch mal zwei Aspekte heraus:

Zwei Beispiele für Schein contra Sein

Das Statistische Bundesamt hat nunmehr amtlich festgehalten und verfügt, dass unser Euro

kein Teuro ist. Erklärung: Wenn Menschen oft Dinge kaufen, die deutlich teurer geworden

sind, haben sie den subjektiven Eindruck, dass alles teurer wurde, obwohl anderes deutlich

billiger ist. Großer Gott! Das dumme ist halt, dass die meisten Menschen eben

Nahrungsmittel oder Toilettenartikel kaufen müssen, die markant teurer wurden, auch heizen

oder tanken ist hierzulande weit verbreitet. Manch einer hat sogar eine Krankenversicherung.

Das soll es geben! Und da hilft es dann wenig, dass Waschmaschinen heute billiger sind als

vor zehn Jahren. Zumindest ich kaufe die nicht zweimal pro Woche neu. Wenn man einen

realistischen Warenkorb mit korrekter Gewichtung zur Messung der Inflation hernehmen

würde, wäre das Bild ein anderes: ein finsteres.

Zweites Beispiel: die Arbeitslosenzahlen. Wie ist es möglich, dass wir in Europa so eng

miteinander verzahnt sind, aber bei uns immer weniger Menschen arbeitslos sind (trotz

starker Zuwanderung von Arbeitnehmern aus schwachen EU-Ländern), während es um uns

herum immer kritischer wird? Wie kann Deutschland seit einigen Monaten nicht mehr

wachsen, aber eingestellt wird scheinbar ohne Limit? Gar nicht, mit Verlaub.

Sicher, der Arbeitmarkt reagiert auf Veränderungen der Konjunktur meist mehrere Monate

verzögert. Weil die großen Unternehmen solche Veränderungen selten rechtzeitig erkennen.

Das geht den Anlegern und Otto Normalverbraucher ja auch so, wie wir gerade lernen.

Wieder mal lernen. Der Umgang mit sich verschlechternden Rahmenbedingungen ist so wie

der Umgang mit dem Tode: Sterben tun immer nur die anderen. Was ich nicht sehen will, ist

auch nicht da. Eine feine Methode, ganz Biedermeier … und genau die Art des Umgangs mit

der Realität, die die Menschen seit Urzeiten zu den unglaublichsten Dummheiten befähigt.

Ich hatte diesen „Beschiss“ bereits in einer Kolumne am 29.07.2010 genauer aufgeführt

(siehe auch im Archiv unter www.system22.de/kolumnen.html) und wollte eigentlich nie

wieder darüber schreiben, aber es muss wohl mal wieder sein.

Wussten Sie, wer alles aus dieser Arbeitsmarkt-Statistik ausgeschlossen wird? Angeblich

waren im Dezember 2,78 Millionen Bürger arbeitslos. Dabei nicht eingerechnet werden:

diejenigen, die:

- über 58 sind und im letzten Jahr kein neues Stellenangebot mehr bekommen haben.

Das sind mal flotte 359.000 Personen! Und …

- Personen mit Ein-Euro-Jobs. Immerhin aktuell 163.000 Menschen.

- Menschen, die arbeitslos, aber gerade in „beruflicher Weiterbildung“ sind: 168.000.

- Arbeitslose, die sich in beruflicher Eingliederung befinden, dazu zählen auch

Leiharbeiter: 143.000

- Arbeitslose, die sich krank gemeldet haben, aktuell ca. 88.000.

- Beschäftigungszuschuss, Bürgerarbeit, Fremdförderung: noch mal ca. 98.000

Insgesamt sind es also in Wahrheit eine gute Million Arbeitslose mehr. Es sind faktisch 3,8

Millionen … wiederum nicht eingerechnet diejenigen, die einfach nicht als arbeitslos gelten,

weil die ehemalige Selbständige sind, die sich nicht beim Arbeitsamt melden und die, die von

Vater Staat einfach verrentet werden, obwohl sie das normale Rentenaltern noch nicht

erreicht haben. Das kann gerne noch einmal eine halbe Million sein. Da wären wir dann bei

ca. 4,3 Millionen und somit bei einer Arbeitslosenrate von faktisch knapp über zehn Prozent.

Hurra.

Die „Wachen“ werden zahlreichen

Wer an den schönen Schein glauben will, bekommt ihn allerorten serviert. Wer indes die

Augen aufmacht, sieht die schmutzige Wahrheit hinter dem Vorhang. Nun habe ich oben

erwähnt, dass ein neuer Trend zur Biedermeierei dazu führt, dass immer mehr Menschen

einfach „den Kopp zumachen“ und sich hinter der Glotze verschanzen. Doof und unwissend,

aber auf eine seltsame Weise glücklich. Das ist sicher wahr, aber es gibt eben auch eine

andere Seite:

Die Gruppe derer, die nichts ungefragt hinnehmen, die genauer hinsehen, die wissen wollen,

was vorgeht, wächst ebenfalls. Und das ist, was unser aller Zukunft angeht, trotz der in

dieser Gruppe mit enthaltenen Verschörungstheorie-Fans und Spinner jeder Couleur ein

wichtiger Fortschritt. Es bedeutet, dass die Zahl derer, die wie einst 2008 den „Alles ist gut“-

Parolen der Politik auf den Leim gehen, nicht zunimmt. Mir klingelt immer noch das hirnlose

„The economy is strong“-Geplapper des US-Präsidentschaftskandidaten McCain in den

Ohren. Damals glaubten zu viele Menschen daran, dass das wieder irgendwie gekittet würde

und man selbst (was mit den anderen passiert, ist ja wurst) ohne Kratzer aus der Sache

herauskommt. Heute …

… könnte das völlig anders laufen. Ich will es zumindest sehr hoffen. Die Zahl derer, die aktiv

werden, die selbst egal wie mit anpacken, um zu verhindern, dass aus der momentanen

Scharade eine Katastrophe wird, deren Ablauf völlig unkalkulierbar wird, wächst. Und das

muss sie, denn was wird sonst geschehen?

Bitterböse Perspektiven

Natürlich werden die Deutschen im Schnitt immer reicher. Aber die Mitte der normalen,

einigermaßen gut situierten wird immer kleiner. Die Superreichen ersaufen in Geld, aber die

Zahl der Armen wächst stetig. Daraus einen Schnitt zu errechnen und die Daumen hoch zu

halten, ist genauso dumm oder bösartig wie die Berechnung der Arbeitslosenzahlen und der

Inflation. Und in den Staaten der Eurozone, in denen jetzt zur Einhaltung momentan völlig

belangloser Vorgaben die Konjunktur stranguliert wird, ist diese Entwicklung noch einiges

extremer. Wie blöde muss man sein, um den darin enthaltenen Sprengstoff nicht zu

realisieren?

Wie blöde muss man sein, um den schönen Schein zu wahren um den Preis, dass der Kern

verfault? Mittlerweile sind es Billionen, die in ein in sich nicht standfähiges Kartenhaus

gepumpt werden, um Staatshaushalte und Banken vor dem Zusammenbruch zu retten. Das

ist fein. Und es geschieht mit dem Argument: Wenn Staaten und Banken pleite gehen, trifft

es alle, auch und gerade den kleinen Mann. Das ist sozial gedacht, meiner Treu. Nur wird

dabei grob fahrlässig (oder gar vorsätzlich) übersehen, dass das Abwürgen der Konjunktur

durch Sparvorgaben am Bürger nicht nur diesen direkt schadet, sondern zudem auch noch

eine Kettenreaktion auslöst, die, wenn es so weitergeht, nicht in kleinen, sondern in

Flutwellen in Deutschland, den USA und Asien ankommen wird. So wie 2008. Nix gelernt?

Genau: nix gelernt.

All diese Milliarden kommen nicht bei den Bürgern an, sie werden ihnen teilweise sogar

abgezogen. Und das unübersehbare Bemühen, aktiv oder verbal die Börsen stabil zu halten,

geschieht auch nicht um des kleinen Sparers willen, sondern im Interesse der großen

Adressen und Unternehmen. Denn die Zahl derer, die sich Aktivitäten an der Börse leisten

können, sinkt.

Die Entscheider laborieren, um es mit einem Beispiel zu veranschaulichen, an der in ihrer

Masse kaum relevanten Erdkruste herum, indem sie Sand (bzw. Geld) in Erdlöcher schütten.

Aber der Druck im Erdinnern, dort, wo die 99% der Masse ruhen, steigt. Und alle tun so, als

wäre nichts.

Jeder, der sich dessen bewusst wird, der dem schönen Schein nicht auf den Leim geht

sondern überlegt handelt, der andere informiert und zum Nachdenken anregt, ist jetzt Gold

wert. Wir kommen nicht um eine Rosskur herum, um die Weltwirtschaft in ein paar Jahren

wieder zu stabilisieren. Aber es ist ein großer Unterschied, ob das im Zuge einer

kontrollierten Verschlankung mit überlegten Reformen passiert oder auf dem Wege einer

Scharade wie jetzt, in welcher sinnfreie Aktivitäten zu einer Verschärfung der Lage führen

und die sozialen Spannungen zunehmen, während die Zahl der Biedermeier, eingelullt durch

die rosa Propaganda eines „Deutschland geht es gut“, auf ihren Sofas ohne es zu wissen

einer Panik entgegen dösen, in der dann alles außer Kontrolle gerät. Aufwachen, bitte. Jetzt!

Und was macht die Börse?

Um auf die Eingansfrage zurück zu kommen: Wie wird denn nun 2012? Tja … für viele

sicherlich ein schweres Jahr auf dem Weg zu noch schwereren Jahren. Aber das muss nicht

zwingend bedeuten, dass die Börsen in 2012 einbrechen. Trotz der „zweckfreien“ halben

Billion an europäische Banken und fleißige Aktivitäten der EZB, der Fed, des IWF und allen,

die Geld drucken oder herbeireden können, sprechend die Rahmenbedingungen und die

momentanen Aktivitäten der Entscheider zwar dafür, dass auch die Börsen reagieren werden

– und zwar weit markanter als im Sommer 2011.

Aber diese Flutung mit Geld kann den Prozess ebenso verzögern wie die Zahl derer, die

immer noch daran glauben, dass die Krise nur die anderen treffen wird und weiter fleißig

kaufen. Ich zweifle absolut nicht daran, dass der Dax im Zuge dieser Krise, die uns noch

lange erhalten bleiben wird (immerhin währt sie eigentlich seit 2007 nonstop), nicht nur die

5.000, sondern auch die 4.000er-Marke locker unterschreiten wird. Aber wann das losgeht

und ob es bereits 2012 wirklich heftig wird, kann niemand vorhersagen. Nur: Wer wach bleibt,

bekommt mit, wenn es passiert. Auch hier gilt also: Aufwachen … und wach bleiben!

Mit den besten Grüßen

Ihr Ronald Gehrt

http://www.system22.de/

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