Dienstag, 24. Januar 2012

Arundhati Roy - Der Ausverkauf Indiens und die Verantwortlichen

Die Geschäfte gehen gut in Indien, die Wirtschaft boomt, doch im Schatten dieser guten Nachrichten gedeiht nach wie vor die Korruption im Staat und in der Gesellschaft.


Beinahe täglich erschüttern neue Enthüllungen über den Missbrauch von Macht, Geld und Einfluss die indische Öffentlichkeit. Doch nun wächst endlich auch der Einfluss einer neuen Gegenöffentlichkeit – vor einiger Zeit noch war es vor allem Arundhati Roy, die Schriftstellerin und Aktivistin, die viele Proteste mit anführte.

Auf ihrer Seite stehen nun Binayak Sen, Arzt, Menschenrechtsaktivist und Streiter für eine ärztliche Versorgung für alle, auch für die Armen – und Anna Harare, dessen Hungerstreik letztendlich dazu führte, dass das indische Parlament sich jetzt endlich des lange Jahre verschobenen Antikorruptionsgesetzes annimmt. Unsere Reporter haben die neuen Streiter für Gerechtigkeit in Indien ein paar Tage lang begleitet.

Biografie -  Arundhati Roy

Arundhati Roy schreibt leidenschaftlich, provozierend und radikal subjektiv über den fortschreitenden Ausverkauf Indiens und benennt die Verantwortlichen, die zumeist weit entfernt vom Ort des Geschehens in den Machtzentren der Welt sitzen. Vehement verteidigt sie die »nicht indoktrinierte Ungezähmtheit« der indischen Lebensart gegen die Herrschaft des Strichcodes. Seit dem Erscheinen ihres Romans »Der Gott der kleinen Dinge« 1997, für den sie den britischen Booker Literaturpreis erhält, ist Arundhati Roy die international bekannteste Schriftstellerin Indiens.

Arundhati Roy ist in Aymanam am Ufer des Meenachil Flusses im südindischen Bundesstaat Kerala aufgewachsen. Ihre Mutter, die den Thomaschristen angehört, ließ sich von Roys Vater, einem bengalischen Hindu und Teeplantagenbesitzer, scheiden. Ihrer Tochter rät sie: »Was auch immer du tust, heirate nie. Und schlaf erst mit einem Mann, wenn du finanziell unabhängig bist.« Roy genießt es, nicht den für Mädchen der indischen Mittelschicht typischen Konditionierungen ausgesetzt zu sein: »Ich war ein Kind, das überall herumstreunen und stundenlang mit der Angel am Fluss sitzen durfte… Dieser Mangel an Konvention war einfach herrlich«.




Die Kehrseite ihres unkonventionellen und ungebundenen Lebens mit ihrer Mutter ist ihre Schutzlosigkeit, ihr Außenseiterdasein, indem sie keiner Kaste, keiner Religion, keinem tharavaad (Haus der Vorfahren) angehört. Sechzehnjährig zieht sie nach Neu-Delhi und wohnt mit Freunden in einer Wellblechhütte in der Armenkolonie Ferozeshah Kotla, direkt neben dem College, an dem sie Architektur studiert.

Als sie 1984 den Filmemacher Pradeep Kishen kennenlernt, der nach Gerard da Cunha ihr zweiter Ehemann wird, entdeckt sie die Möglichkeiten des Films, spielt kleine Rollen und beginnt Drehbücher zu schreiben. Doch die Arbeit im Team entspricht nicht ihrem Naturell. Sie bezeichnet sich als »klassische Einzelgängerin« und widmet sich ab 1992 der Arbeit an ihrem Roman »Der Gott der kleinen Dinge«. Das Dorf ihrer Kindheit wird zum Schauplatz einer Familientragödie, die aus der kindlichen Perspektive der Zwillinge Estha und Rahel geschildert wird. In einem kunstvollen Gewebe aus Erinnerungen, Andeutungen und Rückblenden erzählt die Autorin Geschichten gescheiterter Liebe.

Sichtbar werden die politischen und emotionalen Verstrickungen dreier Generationen vor dem Hintergrund der Auswirkungen der britischen Kolonialherrschaft, des indischen Kastendenkens, massiver Frauendiskriminierung und der fortschreitenden Zerstörung der Lebensgrundlagen. Aufgerieben zwischen individuellem Aufbegehren und kulturellem Zwang sind die Lebensentwürfe der ProtagonistInnen zum Scheitern verurteilt.

»Der Gott der kleinen Dinge ist ein Buch, das eine Verbindung zwischen den kleinsten und den größten Dingen auf der Welt herstellt«, erklärt die Autorin. Roys Gott ist kein großer christlicher oder hinduistischer Gott, sondern ein kleiner Gott des Verlusts, der Vergänglichkeit und der Verwundbarkeit. Angesichts der globalen Bedrohung durch Atombomben, Staudämme, Umweltzerstörung und Genozid können menschliche Qualitäten wie Liebe und Achtsamkeit sich kaum noch behaupten. Doch in ihrem unweigerlichen Scheitern bewahren sie ihre Integrität. Arundhati Roys Empathie und ihr Engagement gilt den VerliererInnen und Benachteiligten, denen gegenüber sie sich als gebildete Frau privilegiert fühlt. Sie will »die Bevölkerung wissen lassen, was in der Welt vorgeht. Es gibt eine ganze Industrie, die sich nach Kräften bemüht, die Leute davon abzuhalten, zu verstehen, was ihnen angetan wird.«

Durch den internationalen Erfolg ihres Buches bestärkt und geschützt, setzt Arundhati Roy ihre schriftstellerische Arbeit radikal für die Aufklärung über Missstände in Indien ein. Mit dem Booker-Preisgeld von 50.000 Pfund Sterling unterstützt sie den Widerstand der verarmten einheimischen Bevölkerung gegen das Narmada-Staudammprojekt und dokumentiert in ihrem Essay »…dann ertrinken wir eben« die menschenverachtende Vertreibungspolitik der Regierung. »Als Sklavin, die sich erdreistet, ihren König zu kritisieren« klagt sie die Heuchelei und Brutalität der Machtpolitik der USA an und bezieht Stellung gegen den Irakkrieg. Schreibend macht sie die Verheerungen der neoliberalen Globalisierungsprozesse sichtbar und fordert zum Widerstand auf.

2003 wird Arundhati Roy der mit 350.000 Dollar dotierte »Preis für kulturelle Freiheit« der amerikanischen Lannan-Familienstiftung zuerkannt. Das Preisgeld verteilt sie an 50 indische Menschenrechtsgruppen, Bildungseinrichtungen und Theatergruppen, die für soziale und gesellschaftliche Veränderungen eintreten.

Im April 2010 besucht Roy Guerillagruppen in den Dschungeln Zentralindiens und veröffentlich einen Bericht ihrer »Wanderung mit den Genossen«, in welchem sie die Perspektive der marxistischen Guerilla reflektiert und ihre Sympathie bekundet. Roy, der mit strafrechtlicher Verfolgung gedroht wird, spricht von einem »Krieg gegen die Armen« und fordert die Regierung zum Umdenken und zu Verhandlungen auf.
Arundhati Roy ermutigt Menschen in aller Welt, neue Formen gewaltfreien Widerstands zu entwickeln, denn »es reicht nicht mehr, nur Recht zu haben. Wir müssen gewinnen.« 
Quelle: Kerstin Reimers -  fembio.org


Zitate

Sogar in der brutalen, beschädigten Welt, in der wir leben, gibt es Schönheit. Eine verborgene, ungestüme Schönheit … Wir müssen sie suchen, pflegen und lieben.
(AR, Das Ende der Illusion. S. 153f)

Es ist die Neugier, die mich antreibt. Sie führt mich tief ins Herz der Welt.
(AR, Wahrheit und Macht. S. 72)

Der Gott der kleinen Dinge - Arundhati Roy 


Der Gott der kleinen Dinge ist ein fesselndes und mitunter nicht ganz leicht verdauliches Leseerlebnis, denn die Autorin scheut sich nicht, sich mit unbequemen Themen auseinanderzusetzen.

Die Geschichte dreht sich um eine indische Familie, die hin und her gerissen ist zwischen Klassen- und Kasten-Unterschieden, einer Scheidung, größeren und kleineren Eifersüchteleien und Rivalitäten. Unter dem Druck dieser Umstände zerbricht die Familie schließlich. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Zwillinge Rahel und Estha, deren Mutter es wagte, sich gegen die herrschenden Konventionen zu stellen, sich scheiden ließ und einen Unberührbaren liebte.

Die Handlung ist stilistisch wunderschön verpackt. Zahlreiche Rückblenden, Erinnerungen und Hinweise auf wichtige Ereignisse im Leben der Protagonisten werden unter den Händen von Arundhati Roy zu einem schillernden Teppich, der von Haß, Liebe, Vergeltung und Vergebung erzählt. Besonders faszinierend ist der Einblick in das uns fremde indische Kastensystem, den die Autorin uns gewährt. Viele kleine und doch so aussagekräftige Szenen, die in einer sehr aussagekräftigen und malerischen Prosa geschildert werden, zeigen dem Leser, daß es die kleinen Dinge sind, die das Leben lebenswert machen.

Ich machte im Laufe des Buches alle Stationen von Wut, Freude, Glück und Trauer durch, und doch schloß ich das Buch mit einem Lächeln und der Gewißheit, das das Leben trotz allen Härten doch schön ist.

Der Gott der kleinen Dinge - Arundhati Roy 


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